Eine Halloween Geschichte in zwei Teilen: Teil 2 — Wie Harvey lernte durch Wände zu gehen!

ghost-35852_640Als nächsten wollten Fenella und Quirk ihrem Sohn nun beibringen, wie man als Gespenst durch Wände geht und was man tun musste, damit Menschen einen ebenfalls sehen konnten. Beides ging nämlich Hand in Hand und beruhte auf einer sehr disziplinierten Atemtechnik. Um durch eine Wand zu gehen, musste ein Gespenst nämlich gaaaaanz tief ausatmen. So tief, dass sämtliche Luft aus seinem Körper entwich. Und da Gespenster ohnehin schon feinstofflich sind ist dies, wie ihr euch sicherlich gut vorstellen könnt, für ein Gespenst auch besonders schwierig! Aber erst wenn jegliches Quäntchen Luft aufs dem Körper eines Gespenstes entwichen ist, kann es auch durch Wände und Mauern schreiten. Danach muss es dann aber auch ganz, ganz schnell wieder tiiiiief Luft holen — und das ist dann auch immer genau der Moment, wo auch wir Menschen das Gespenst sehen können. Nämlich immer dann, wenn sein Körper prall gefüllt mit Luft ist — allerdings auch nur für die Dauer, wo das Gespenst die Luft anhalten kann! Ein Gespenst das also besonders lange die Luft anhalten kann, kann man folglich auch besonders lange sehen. Und das ist auch der Grund, warum Gespenster scheinbar so oft einfach wieder verschwinden — sie konnten einfach nicht mehr länger die Luft anhalten.

Doch so oft Fenella und Quirk diese Atemtechnik auch mit Harvey übten, irgendwie schaffte Harvey es nie alle Luft aus seinem Körper entweichen zu lassen, weshalb er immer wieder gegen die Übungswand, die er durchqueren sollte prallte — bis das schließlich eine dicke Beule seine Stirn zierte. Noch schlimmer war es, wenn Harvey versuchen sollte, die  Luft anzuhalten! Jedes Mal wenn Harvey die Luft anhielt, musste er dabei so heftig lachen, als würde ihn jemand ganz heftig kitzeln. Natürlich war ihm das alles sehr peinlich, denn er war sich dem Ernst seiner Lage ja durchaus bewusst. Wie sollte aus ihm jemals ein richtiges Schreckgespenst werden, wenn er nicht in der Lage war jemanden zu erschrecken? Trotzdem musste Harvey beim Üben der Atemtechnik manchmal sogar so heftig lachen, dass er davon ohnmächtig wurde. Schließlich stellten Fenella und Quirk den Unterricht mit Harvey deshalb auch ein. Sie versicherten ihrem Sohn, dass sie ihn aber trotzdem immer lieben würden, auch wenn er niemals einen Menschen würde erschrecken können.

***

turtle-297662_640-1Aber Harvey wollte nicht so schnell aufgeben und diesmal machte er sich ganz alleine auf den Weg zum Burggraben, wo die alte Schildkröte wohnte. Sie hatte schon von einer Stubenfliege von Harveys Dilemma gehört und wie immer wusste sie Rat. Und wie immer im Märchen verlangte sie dafür eine Gegenleistung.

»Vor ein paar Tagen ist mir meine Brille in den Burggraben gefallen und im tiefen Wasser versunken«, krächzte sie. »Jetzt bin ich wieder so blind wie vorher. Wenn du mir die Brille aus dem Wasser holst, helfe ich dir«, sagte sie. Harvey war einverstanden und die Schildkröte zeigte Harvey die Stelle an der genau die Brille ins Wasser gefallen war. Harvey versuchte die Luft anzuhalten, um unter Wasser zu tauchen, aber sogleich verspürte er wieder den Drang zu lachen. Harvey prustete laut los! Es war als würden tausend Hände ihn kitzeln. Da spritze ihn die Schildkröte einfach nass! Durch das kalte Wasser aufgeschreckt, nahm Harvey automatisch einen sehr tiefen Atemzug — und hielt dann auch ganz automatisch die Luft an! Da gab ihm die Schildkröte einen kräftigen Stoß und Harvey fiel in den Burggraben, wo das Gewicht seines Silberkettchens ihn nun sogleich unter Wasser zog. Das Wasser war eiskalt und Harvey konnte deshalb auch gar nicht anders, als einfach weiter die Luft anzuhalten. Harvey ließ sich bin zum Grund des Burggrabens ziehen. Zum Glück jedoch leuchtete Harveys weiße Farbe auch in dem tiefen und dunklen Wasser des Burggrabens immer noch ganz hell und so konnte Harvey zumindest ganz gut sehen. So sah er denn auch sogleich die Brille aus Silber auf dem Grund liegen und nahm sie an sich. Doch wie sollte er nun wieder nach oben gelangen, wo er doch durch die Brille nun sogar noch mehr Gewicht hatte? Vor Schreck ließ Harvey ein kleines bisschen Luft aus seinem Körper entweichen — und siehe da, Harvey stieg ein wenig auf. Also ließ Harvey noch ein bisschen Luft entweichen und er stieg noch höher. Als Harvey endlich wieder mit dem Kopf aus dem Wasser schaute war es auch höchste Zeit, den sein Körper war mittlerweile komplett luftleer! Aber da war auch schon die Schildkröte zur Stelle und schwamm auf Harvey zu. Mit ihrem Maul packte sie Harvey an seinem Silberkettchen und zog ihn zurück an Land. Dort gab Harvey ihr die Brille.

***

halloween-logoAm nächsten Tag hatte Harvey eine Überraschung für seine Eltern geplant! Es war wieder Halloween und Harveys erster Geburtstag. Harvey wusste, dass eigentlich seine Eltern eine Überraschung für ihn planten und deshalb hatten sie sich auch klammheimlich davon geschlichen, als Harvey vorgab zu schlafen. Doch in Wirklichkeit war Harvey seinen Eltern gefolgt. Als sie nichtsahnend um die Ecke eines langen Korridores schwebten, schritt Harvey direkt vor ihnen durch die Wand und machte laut: »BUH«

Harveys Mutter Fenella schrie laut vor Entsetzten auf und Harveys Vater Quirk griff sich in einem Anfall von Panik ans Herz, bevor er leicht durch die Knie sackte! Doch statt gleich wieder unsichtbar zu werden, hielt Harvey die Luft nun so lange an, wie es nur ging und seine wunderschöne, weiße Farbe leuchtete so hell, dass ihr Schein durch ein Fenster sogar bis hinunter zum Burggraben fiel, wo die alte Schildkröte anerkennend schmunzelte.

***

ghost-311439_640Jetzt war Harvey ein echtes Schreckgespenst und fortan machte er seinem Namen alle Ehre! Jede Nacht uhuhte und buhute er durch das Schloss und kein Silber war vor ihm sicher! Hatte die Dienstmagd eben erst den großen Bankett-Saal mit dem Silberbesteck eingedeckt und dabei den Abstand zwischen Messern, Gabeln und Löffeln haargenau mit einem Maßband bemessen, dann konnte man sicher sein, dass sobald sie der Tafel den Rücken zudrehte Harvey alles Besteck prompt wieder durcheinandergewirbelt hatte. Mit Vorliebe warf Harvey auch die großen Trinkkrüge aus massivem Silber auf den Boden, weil die immer besonders laut schepperten. Und ihr wollt gar nicht wissen, was für Qualen die Burgbewohner erst durchleiden mussten, als Harvey herausfand, wie man mit zwei Silberlöffeln auf einem Silbertablett Schlagzeug spielen kann!

Doch nichts liebte Harvey mehr, als einen Menschen bei Nacht bis ins Mark zu erschrecken. Er war so gefürchtet, dass jeder Bewohner nachts die Tür zu seinem Schlafgemach verriegelte. Doch das nütze alles nichts, denn egal wie dick eine Mauer auch war, Harvey schaffte es immer hindurch. Dann schwebte er zum Bett, krabbelte an einem Bettpfosten hinauf auf die Brust des Schlafenden, holte so tief Luft, wie es nur ging und hielt dann die Luft an. Gleichzeitig kitzelte er mit seinem Silberkettchen den Schlafenden einmal leicht unter der Nase, so dass derjenige erwachte. Was glaubt ihr, wie die Leute erschraken, als sie die Augen öffneten und auf ihrer Brust einen wahnsinnig hell leuchtenden Mini-Geist mit Silberkette um den Hals erblickten?

Harvey wurde jedenfalls sehr berühmt. Überall sprach man davon, dass in der Burg das fürchterlichste Schreckgespenst weit und breit hausen würde. Zwar ist Harvey nie gewachsen, aber das war ihm egal, denn kein Schreckgespenst leuchtete so wunderschön wie er.

ghost-156656_640Harvey spukte viele, viele Jahrhunderte in dieser Burg und er sah viele, viele Burgherrn kommen und gehen. Irgendwann war niemand mehr da, auch die alte Schildkröte war schon lange tot. Die Burg war zur Burgruine geworden und auch Harveys Eltern, Fenella und Quirk, waren ebenfalls schon lange fort. Irgendwann waren auch sie nur noch Schatten ihrer selbst gewesen und dann, eines Tages, hatten sie sich komplett verflüchtigt. Harvey sah mit Tränen in den Augen den Überresten seiner Eltern hinterher, wie sie zu den Wolken emporstiegen. Harvey blieb noch einige hundert Jahre in der verlassenen Burg. Ab und zu kamen Wanderer vorbei, die Harvey noch erschrecken konnte, aber es war einfach nicht mehr so wie früher. Einmal beobachtete Harvey eine Familie, die in der Nähe der Burg zeltete. Die Familie bestand aus dem Vater, der Mutter und einem kleinen Jungen. Der Jungen fürchtete sich in der Nacht so sehr, dass Harvey darauf verzichtete ihn noch zusätzlich zu erschrecken. Er war zu seinem Vater in den Schlafsack gekrochen und hielt in seinen Armen ein Stofftier das aussah wie die Schildkröte die einst am Burggraben gelebt hatte. Da wurde Harvey bewusst, wie alleine er war und das niemand mehr da war, der ihn liebte.

Am nächsten Tag wehte der Ostwind mal wieder sehr heftig und Harvey schwebte zum Grab der alten Schildkröte, an einem Burggraben durch den schon lange kein Wasser mehr floss. Dort nahm Harvey sein Silberkettchen ab und hängte es über das kleine Kreuzchen auf dem Grab. Dann ließ Harvey sich mit dem Wind forttreiben. Dabei stieg er immer höher und höher auf und das Land unter ihm wurde immer kleiner und kleiner. Harvey schwebte durch die Wolken und immer noch höher und höher der Sonne an einem nun strahlenblauen Himmel entgegen. Irgendwann wurde der Himmel über ihm aber immer dunkler und die Erde unter ihm war nur noch eine große, blaue Murmel. Überall um ihn herum funkelten die Sterne und dann war auch die Erde nur noch ein winziger Stern.

Plötzlich hörte Harvey die vertraute Stimme der Schildkröte. Er drehte sich um und da war sie — direkt vor ihm. Und weil die Schildkröte immer alles gewusst hatte, fragte Harvey: »Wo bin ich?«

»Du bist am Anfang«, antwortete die Schildkröte. »Es liegt bei dir, was du tun möchtest oder wer du sein willst.«

Harvey war unentschlossen. Einerseits hatte er sein Dasein als Schreckgespenst sehr genossen — jedenfalls bis dass er irgendwann ganz alleine gewesen war. Und irgendwie wäre es ja auch mal ganz cool einen echten Körper zu haben. Die Schildkröte schien Harveys Gedanken zu erraten.

»Mach‘ die Augen zu«, sagte sie und Harvey tat wie geheißen.

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Nun mögt ihr euch fragen woher ich Harveys Geschichte kenne. Nun, er hat sie mir selbst erzählt! Vor ein paar Jahren war ich zu Halloween einmal in Amerika und die Kaufhäuser waren voll mit Halloween Dekorationen. In der Spielwarenabteilung, bei den Stofftieren, sah ich einen wunderschönen, schneeweißen, kleinen Geist, der mich förmlich anstrahlte und mich bat, ihn mitzunehmen. Da wusste ich, dass er etwas ganz besonderes war. Nachdem ich ihn an der Kasse bezahlt hatte, sagte der kleine Geist sein Name sei Harvey — und so kam Harvey zu mir. Jedes Jahr feiern wir nun Halloween zusammen und Harvey trällert mir dann schaurig, schöne Halloweenlieder. Mittlerweile hat Harvey auch einen neuen Freund bekommen, dieser heißt Pumkin und hat zwar eine fürchterliche Lache, aber er und Harvey sind unzertrennlich.

Hier geht’s zu Harveys Video: icon-youtube

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Titelfoto: Copyright by Kristine Weitzels
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