Eine Halloween Geschichte in zwei Teilen: Teil 1 — Wie Harvey das Schweben lernte!

halloween-1751903_640 Dies ist die Geschichte von Harvey. Harvey wurde vor langer, langer Zeit als kleines, weißes Schreckgespenst geboren. Harvey wurde zu einer Zeit geboren, als die Menschen noch sehr abergläubisch waren und auch die Existenz von Gespenstern nicht verleugneten. Harvey hatte Glück, denn er wurde an einem Ort geboren an dem jedes Schreckgespenst gerne geboren wurde. Aber nicht jedes Schreckgespenst hatte so viel Glück wie Harvey und wurde in einer richtigen Burg mit großem Verlies, vier ganz hohen Türmen und einem tiefen und besonders breitem Burggraben geboren! Nehmen wir zum Beispiel Harveys Vetter George ersten Grades, der in einem Schweinestall geboren wurde und fortan dort herumspuken musste. Habt ihr jemals von einem Schwein gehört, dass Angst vor Gespenstern hat?

Harveys Eltern, Fenella und Quirk, waren überglücklich als ihr Erstgeborener das Licht der Welt erblickte. Zugegeben Harvey war ein wenig klein, kaum größer als ein Hundewelpe, aber dafür leuchtete er im strahlendstes und hellsten weiß, dass ein Schreckgespenst je gesehen hatte! Harveys Mutter Fenella war überzeugt, dass die schöne Farbe ihres Sohnes daher kam, dass er an einem so besonderen Tag geboren worden war. Harvey war nämlich genau am 31. Oktober, also zu Halloween, geboren worden und noch dazu bei Vollmond! Harvey strahlte und glitzerte und sein weiß war so weiß, dass alle anderen Schreckgespenster neben ihm einfach blass aussahen. Ihr müsst dazu auch wissen, dass Gespenster in der Regel sowieso eher gräulich als weiß sind.

halloween-1679591_640Fortan unterrichteten Fenella und Quirk ihren Sohn in allem was ein gutes Schreckgespenst so wissen und können musste. Als erstes brachten sie Klein-Harvey das Schweben bei. So wie ein Menschenbaby laufen lernt, lernte Harvey das Schweben. Dazu müsst ihr wissen, dass ein Gespenst tatsächlich aber nur ein paar Zentimeter über festen Boden schweben kann. Ein Gespenst kann zum Beispiel nicht fliegen und würde es aus einem Fenster fallen, könnte es sich dabei genauso verletzen wie ein Mensch. Nur bei Harvey war das anders. Harvey war so klein, dass er deshalb viel höher schwebte als alle anderen Gespenster. Und um es noch deutlicher auszudrücken, Harvey schwebte so hoch, dass er ständig unter der Burgdecke klebte. Und Burgen sind dafür bekannt, dass sie seeeeehr hohe Decken haben!

Zum Glück hatte Klein-Harvey aber auch noch nicht gelernt, wie man durch Wände ging und so konnte er an den Wänden entlang immer wieder zurück nach unten krabbeln. Aber das war auch sehr anstrengend, denn kaum war Harvey wieder nach unten gekrabbelt, da forderte seine Leichtigkeit auch schon wieder ihren Tribut und zog ihn zurück zur Decke! Nicht auszudenken, wenn Harvey aus Versehen einmal durch ein offenes Fenster schweben würde. Wie hoch würde er dann tatsächlich aufsteigen und wie käme er wieder nach unten, ohne Wände, an denen er zurückkrabbeln konnte? Also bewahrten Fenella und Quirk ihren Sohn meistens in einer hochkant aufgestellten Apfelkiste auf, wo er am oberen Rand der Kiste klebte — t‘schuldigung ich meinte schwebte, ohne dass eine Gefahr bestand einfach hinfort zu wehen. Vor allen Dingen wenn Harvey schlief, war die Gefahr sehr groß, dass er einfach davon schwebte. Ihr müsst nämlich wissen, dass das Schweben bei Gespenstern ein Dauerzustand ist, ähnlich wie bei den Astronauten im Weltall. —Nur dass diese sich zum Schlafen festbinden können, was bei dem filigranen Körper eines Gespenstes eben nicht möglich ist.

turtle-297662_640In ihrer Sorge holten sich Fenella und Quirk Rat bei der riesigen Schildkröte, die am Burggraben wohnte. Die Schildkröte war schon uralt und weise und fast blind, aber da man Gespenster in der Regel eh nicht sehen kann, war das egal. Die Schildkröte hatte auch gleich eine Idee, wie sie Harvey helfen könnte, aber wie das im Märchen nun mal so ist, forderte sie dafür auch eine Gegenleistung.

»Bringt mir die Brille der kürzlich verstorbenen Mutter des Burgherrn«, krächzte die Schildkröte. »Sie hat für ihre Stickereien immer gerne ganz oben in der Kammer des Ostturmes am östlichen Fenster gesessen, weil das Licht dort früh morgens so gut ist. Und ich weiß, dass sie für diese Arbeit auch immer eine Brille getragen hat. Als ich nämlich noch jünger war und meine Augen noch so scharf wie die eines Adlers waren, habe ich sie von hier unten oft beobachtet. Ich bin sicher, die Brille liegt immer noch auf der Fensterbank!«

»Das ist unmöglich«, erwiderte Harveys Mutter Fenella ein wenig resigniert. »Harvey hat noch nicht gelernt, wie man durch Wände geht und wie anders sollte er bis dort oben hinauf gelangen!«

Doch die alte Schildkröte grinste bloß. »Zurzeit herrscht Ostwind, wenn ihr ihn also außen an der Ostwand des Ostturmes, gleich unterhalb des östlichen Fensters, aufsteigen lasst, dann drückt der Ostwind ihn gegen die Mauer. Harvey braucht nur ganz nach oben zu schweben und ist er erst einmal ganz oben angelangt, drückt der Wind ihn auch automatisch gegen die Gitterstäbe des Ostfensters. Harvey braucht also nur durch die Gitterstäbe des Fensters greifen und die Brille an sich zu nehmen — und wenn ich mich nicht irre, dann wird er danach auch ganz von selbst zu Boden sinken. Und wenn nicht, dann krabbelt er eben an der Burgwand entlang wieder hinunter!«

Fenella war empört! Nie im Leben würde sie ihren Sohn einer solchen Gefahr aussetzen! Und auch Quirk schüttelte traurig den Kopf. »Selbst wenn wir uns auf deinen Vorschlag einlassen würden, alte Schildkröte, dein Plan würde trotzdem nicht funktionieren«, sagte er. »Harvey ist ein Geist und wie sollte er als feinstoffliches Wesen etwas an sich nehmen, dass aus fester Materie besteht?«

Die alte Schildkröte grinste bloß wieder. Dann antwortete sie: »Die Brille ist aus reinem Silber und Silber ist — wie ihr wisst — das einzige das aus fester Materie besteht, und das auch Gespenster anfassen und bewegen können!«

***

halloween-1746354_1920Harvey selbst war über seinen Zustand wirklich sehr betrübt und als ihm seine Eltern bei ihrer Rückkehr erzählten, was die alte Schildkröte als Gegenleistung für ihre Hilfe von Harvey erwartete, erklärte er sich, trotz der Gefahr, sogleich dazu bereit! Er quengelte und zeterte drei ganze Tage und drei ganze Nächte lang, so laut, dass der Burgherr und das Burgfräulein es vorzogen auf dem Rasen vor der Burg in einem Zelt zu nächtigen. Doch Fenella und Quirk blieben unnachgiebig. Sie fanden das Risiko, das Harvey beim Versuch die Brille zu holen, davon geweht werden könnte einfach zu hoch.

Am vierten Tag kam die alte Schildkröte zu Harvey und sagte: »Ich bin zwar fast blind aber noch lange nicht taub und dein Gezeter geht mir durch Mark und Bein!«

Dann packte sich die Schildkröte Harvey mit samt seiner Apfelkiste auf den Rücken und verlies mit ihm die Burg. Draußen blies wieder ein steifer Ostwind und die Schildkröte musste sehr darauf achten, dass der Wind Harvey nicht einfach packte und hinfort wehte. Deshalb hatte sich die Schildkröte Harvey’s Kiste auch so auf den Rücken gestellt, dass die Öffnung der Kiste nach Westen zeigte und Harvey windgeschützt war. Als die Schildkröte jedoch unterhalb der östlichen Seite des Ostturmes angekommen war, drehte sie ihren eigenen Körper aus dem Wind. Augenblicklich wurde Harvey nun vom Wind erfasst, aus der Kiste geweht und prompt gegen die Wand des Turmes gepresst. Genauso hatte sich die Schildkröte das auch vorgestellt.

sandcastle-149932_640Langsam stieg Harvey nun immer höher und höher auf, während der Wind ihn stetig gegen die Turmwand drückte. Ganz oben angekommen, und bevor der Turm endete und Harvey tatsächlich hätte fortgeweht werden können, drückte der Wind ihn tatsächlich gegen die Gitterstäbe des Turmfensters. Harvey sah die zierliche Brille sofort! Sie war aus purem Silber und an ihr war eine sehr feine und filigrane Silberkette befestigt. Die Brille lag, so wie die Schildkröte es vorhergesagt hatte, immer noch auf der Fensterbank. Dazu müsst ihr wissen, dass sich in den Fensteröffnungen der Burgen ganz früher auch noch kein Glas befand, sondern Gitterstäbe, um Eindringlinge fernzuhalten. Harvey nahm einfach die Kette und hängte sich die Brille um den Hals.

Augenblicklich zog in das Gewicht der Brille nach unten in Richtung Boden. Unten auf dem Boden angekommen wartete schon die Schuldkröte auf ihn. Sie bat Harvey die Brille von der Kette zu lösen und sie ihr auf die Nase zu setzen. Harvey kam der Bitte nach und dann huschte ein Strahlen über das schrumpelige Gesicht der Schildkröte, weil sie jetzt endlich wieder richtig gut sehen konnte. Durch das fehlende Gewicht der Brille fing Harvey aber gleich wieder an zu schweben, allerdings nur so viel, dass er gerade über dem Boden schwebte — wie ein richtiges Gespenst eben. Die Schildkröte machte einen Knoten in die feine Silberkette, die nun lose über Harveys Nacken baumelte, sodass Harvey sie nicht verlieren konnte. So war beiden gedient: Der Schildkröte, die endlich wieder sehen konnte und Harvey, der durch das Gewicht der Kette nun nur noch einige Zentimeter über dem Boden schwebte, statt immer weiter in die Höhe zu steigen.

tux-161365_6401Eine normale Kette wäre einfach durch den zuckerwatte-ähnlichen Körper eines Gespenstes hindurchfallen, nicht so jedoch eine Silberkette. Und deshalb sind Aussagen über angekettete Gespenster, die in tiefen Kerkern mit ihren Ketten rasseln, auch völliger Unsinn!  Außer diese Ketten wären tatsächlich aus purem Silber gefertigt gewesen. Und aus diesem Grund können Gespenster auch keine Dinge verrücken oder gar umwerfen — außer natürlich sie sind ebenfalls aus purem Silber.

***

Fortan schwebte Harvey jedenfalls nur noch knapp über dem Boden. Dass er dies nur der Silberkette zu verdanken hatte, minderte den Stolz seiner Eltern allerdings überhaupt nicht! Immerhin wussten sie, wie viel Mut und Geschicklichkeit ihr Sohn bewiesen hatte, um überhaupt an die Kette zu gelangen.

Hier geht’s zu Harveys Video: icon-youtube

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Titelfoto: Copyright by Kristine Weitzels
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